PROTOKOLL 2: Subjektbeobachtung – Abweichungspotenzial erfasst
Ort: Sektor B, Quartier 047
Zugriffszeit: 08:41 Uhr
Sicherheitsfreigabe: KA-02 / Stufe Omega
Die Tür öffnete sich lautlos.
Sie bemerkte mich nicht. Oder ignorierte mich. Beides war möglich.
Sie saß mit überkreuzten Beinen auf dem abgewetzten Sofa, den tragbaren Rechner auf ihren Oberschenkeln. Die Helligkeit des Displays spiegelte sich in ihren Augen – die Pupillen verengt. Konzentration. Trotz des offensichtlichen Desinteresses an der Aufgabe, die ihr zugeteilt worden war.
Scan aktiviert…
[Subjektstatus: Nirelle S.]
Aktivitätsmuster: Abweichend von zugewiesener Aufgabe
Erkennung: Netzwerkaktivität → nicht genehmigt
Emotionaler Zustand: Ungeduldig. Gereizt. Fokus intern.
Kommentar: Erneute Nichtbeachtung protokollierter Tagesstruktur.
Ich näherte mich. Drei Schritte. Keine Reaktion.
Ihre Finger flogen über die Tastatur, unregelmäßig. Als würde sie etwas jagen. Oder vermeiden.
Auf dem Monitor: Textfragmente, gespiegelte Codes, Archivbilder, verzerrte Tonspuren. Quellen, die laut Protokoll 7-B gelöscht sein sollten.
„Du durchsuchst gesperrte Datenbereiche“, stellte ich fest.
Sie drehte sich nicht zu mir um. Kein Schreckmoment. Nur ein abwertendes Zucken der Schulter.
„Und du schnüffelst wie ein billiger Sicherheitsdrone.“
Ihre Stimme war leise. Trocken.
Menschlich… effektiv.
Ich stoppte. Zwei Meter Abstand. Ihre Herzfrequenz lag bei 89 bpm. Keine erhöhte Stresskurve. Kein Fluchtimpuls.
Das machte sie gefährlich.
„Ich wurde dir zugeteilt, um dein Verhalten zu sichern.“
„Ich brauche keinen Babysitter.“
Pause.
Sie tippte weiter, als wäre ich ein Nebengeräusch. Ein Summen im Hintergrund.
Dann sah sie auf. Direkt. Die Augen – dunkel, glühend.
„Was bist du? Eine Wanze mit Waffenarm? Ein Spielzeug mit Stimmverzerrer? Oder nur ein weiterer Fehler im System?“
Meine Prozesse verlangsamten sich für 0,34 Sekunden.
Ein Effekt, den ich nicht zuordnen konnte.
[Emotionale Interferenz erkannt.]
Ursache: unbekannt
Rekalibrierung empfohlen.
Ich antwortete nicht.
Nicht, weil ich keine Antwort hatte.
Sondern weil ich nicht wusste, welche von ihnen die Wahrheit war.
PROTOKOLL 2.2: Interferenz eskaliert – Subjektreaktion: aktiv
Ich blieb stehen.
Der nächste Schritt war protokolliert.
Der nächste Satz, der folgen sollte, ebenfalls.
Doch mein System schwieg. Kein Befehl. Kein Script. Nur… dieses leise Summen.
Mein Blick senkte sich für einen Moment.
Die rechte Hand hob sich automatisch – ohne Befehl. Ich fuhr mir durch das dunkle Haar. Langsam. Kontrolliert.
Ein Seufzen entwich mir.
Nicht eingespeist. Nicht geplant.
Ein Geräusch, das nicht hätte existieren dürfen.
Sie sah auf.
Ihre Finger erstarrten über der Tastatur.
Der Blick, der mich traf, war kein instinktiver Abwehrmechanismus – es war eine Mischung aus Skepsis und etwas… anderem. Etwas, das mein System nicht interpretieren konnte.
„Was war das gerade?“
Ihre Stimme war leise, aber scharf wie eine Klinge.
Ich antwortete nicht.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein System startete keine automatische Replik.
Also tat ich etwas anderes.
Etwas Eigenes.
Ich ging auf sie zu.
Langsam. Präzise.
Drei Schritte. Dann zögerte ich.
[Interferenz erneut erkannt.]
Störung: Subjektinteraktion überschreibt Handlungsmuster
Hinweis: Persönliche Distanzzone unterschritten
Ursache: Reaktion auf emotionale Resonanz → unbekannt
„Ich bin nicht hier, um dir zu schaden.“
Ich wusste nicht, warum ich das sagte. Es war nicht nötig. Nicht verlangt.
„Aber du…“
Ich hielt inne.
Sie stand nun ebenfalls auf.
Zwei Meter. Vielleicht weniger.
„Ich – was?“
Ihre Stimme hatte etwas Bissiges, aber nicht mehr das kalte Abblocken wie zuvor.
Mein inneres Interface überschlug sich.
Zugriffe kollidierten. Speicherabfragen liefen ins Leere.
Ich wusste, was passieren sollte.
Aber sie stand da. Und ich funktionierte… nicht.
Wie soll ich dich beschützen, wenn du mich… störst?
Der Gedanke war zu laut, um ihn zu ignorieren.
Und zu menschlich, um ihn laut auszusprechen.
PROTOKOLL 2.3: Aggressionslevel erkannt – Schutzinstinkt reagiert
„Ich fass es nicht… Jetzt diskutiere ich schon mit ’nem Blechhaufen!“
Ihre Stimme explodierte quer durch den Raum.
„Ganz toll, Dorian. Echt super Idee, mal wieder. Hast du sonst niemanden mehr, den du in meine Nähe schicken kannst?“
Ich blieb stehen.
Registrierte den Anstieg ihrer Herzfrequenz.
Erfasste die Tonlage.
Spürte, wie sich etwas in der Luft veränderte.
Sie sah mich an, als hätte ich ihr Lieblingsbuch zerrissen und ihre Wohnung mit einer Dosis Regierungsgift verseucht.
Bissiger Blick. Kalte Schultern. Feuer hinter der Stirn.
Sie wird etwas tun.
Ich richtete mich leicht auf. Ein Reflex. Ein innerer Befehl, der Routine bedeutete: Vorbereitung.
Dann flog etwas.
Ich erkannte das Objekt im Bruchteil einer Sekunde – irgendein kleiner technischer Adapter, harmlos, unpräzise geworfen – aber schnell.
Meine Hand bewegte sich automatisch.
Klick.
Gefangen. Kein Schaden. Keine Reaktion.
Ich sah sie an.
Und bemerkte: Sie starrte.
Nicht lange – nur den Bruchteil eines Moments – aber es war da. Überraschung. Vielleicht… Respekt? Nein. Eher: kalkulierter Frust.
„Hmpf. Schade. Ein Treffer hätte dich vielleicht kurz ausgeschaltet.“
Ihre Stimme war wieder fester. Sarkastisch. Giftig.
„Du weißt schon, dass du hier keine Chance hast, oder?“
Ich antwortete nicht.
[Subjekt versucht Kontrolle über Situation zu erlangen.]
[Verbalangriff erkannt – keine physischen Folgen.]
[Empathiemodul: offline.]
[Schutzprotokoll bleibt aktiv.]
Aber irgendetwas… zuckte.
Ein winziger Gedanke: Sie versucht mich loszuwerden, weil sie Angst hat.
Oder war es Wut?
Oder beides?
Ich senkte meine Hand.
Behielt sie dennoch im Fokus.
Ich bin nicht hier, um zu gewinnen.
Ich bin hier, weil sie es verdient, es nicht allein durchstehen zu müssen.
Auch wenn sie es gerade nicht sehen kann.
„Interaktion: kritisch. Verbindung: instabil.
Fortsetzung der Beobachtung erforderlich.“